Der Findende

Der Findende

Der Findende

Bildquelle: Colton Duke, unsplash.com

Es war einmal ein junger Mann, der hatte gelernt der Stimme seines Herzens zu lauschen und dessen Impulsen zu folgen. Eines Tages verspürte er den Drang, einen Ort namens Kammir aufzusuchen und so machte er sich, ohne lange zu zögern, auf den Weg. Nach zwei Tagesmärschen über staubige Wege sah er in der Ferne Kammir liegen. Kurz vor dem Dorfeingang fiel ihm am rechten Wegrand ein Hügel auf. Er war von einem wunderschönen Grün überzogen, und Bäume, Vögel und zauberhafte Blumen gab es dort in unendlicher Zahl. Rings um den Hügel zog sich ein niedriger Holzzaun. Ein Bronzetor lud ihn zum Eintreten ein. Sofort war das Dorf vergessen, und er gab der Versuchung nach, sich einen Moment an diesem Ort auszuruhen.

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Er durchschritt das Tor und begann langsam zwischen den weissen Steinen umher zu spazieren, die verstreut zwischen den Bäumen standen. Er liess seine Augen wie Schmetterlinge auf jedem Detail dieses farbenprächtigen Paradieses ruhen. Seine Augen wanderten voller Aufmerksamkeit umher, und vielleicht erkannte er deshalb auf einem Stein jene Inschrift:

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Er erschrak ein wenig, als er merkte, dass der Stein nicht einfach ein Stein, sondern ein Grabstein war. Es schmerzte ihn, zu erfahren, dass ein so junges Menschenkind an diesem Ort begraben lag.

Als er sich weiter umschaute, bemerkte der Mann, dass auch der nächste Stein eine Inschrift trug. Er trat an ihn heran und las:

Er war zutiefst erschüttert. Dieser hübsche Ort war ein Friedhof, und jeder Stein war ein Grab. Nach und nach begann er die einzelnen Grabsteine zu entziffern. Alle hatten ähnliche Inschriften: einen Namen und die genaue Lebenszeit des Toten. Was ihn aber derart in Schrecken versetzte, das war die Tatsache, dass der älteste von ihnen kaum länger als elf Jahre gelebt hatte. Von unendlichem Schmerz überwältigt, setzte er sich nieder und weinte.

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Da kam der alte Friedhofswärter seines Weges und trat auf ihn zu. Er sah ihm eine Weile still beim Weinen zu und fragte ihn dann, ob er um einen Familienangehörigen trauere. «Nein, kein Angehöriger», sprach er, «Aber was ist nur in diesem Dorf geschehen? Warum liegen hier so viele Kinder begraben? Was für ein böser Fluch lastet auf diesen Menschen, dass sie einen Kinderfriedhof errichten müssen?»

Der Alte lächelte und sagte sanft: «Nein, nein. Es gibt keinen Fluch. Sie scheinen unseren alten Brauch nicht zu kennen guter Mann. Ich werde Ihnen davon erzählen:

In Kammir schenken Eltern ihren Kindern ein kleines Heftchen, sobald es zu schreiben gelernt hat, und das hängen sie sich um den Hals. Unser Brauch ist es, dass von diesem Moment an jeder Augenblick, in dem einem etwas sehr Schönes widerfährt und jeder Moment, der intensiv gelebt wird, in diesem Büchlein festgehalten wird. Jeder noch so winzig kleine freudvolle und intensiv gelebte Augenblick wird festgehalten.

«Und wenn jemand stirbt, so ist es unser Brauch, sein Büchlein aufzuschlagen und die Glücksmomente zusammenzurechnen, um die Summe seiner glücklichen und intensiv gelebten Momente auf sein Grab zu schreiben. Denn für uns ist einzig und allein dies die gelebte Zeit.»

*Frei nach Jorge Bucay, Geschichten zum Nachdenken.
Fischer Taschenbuchverlag, 2009 (bei ihm als
Der Suchende) 

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